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EU-Spitzenkandidatin Julia Reda – “Es geht um nicht weniger als die digitale Revolution”

Rede der Spitzenkandidatin der Piratenpartei Deutschland zur Europawahl Julia Reda während des Landesparteitages in Dresden am 05. Mai 2014:

In drei Wochen ist Europawahl, ich mache seit zwei Monaten Vollzeitwahlkampf und ich komme aus dem Staunen gar nicht mehr heraus. Da haben wir deutschen Piraten uns als Wahlkampfauftakt erstmal ordentlich zerlegt. Da sind uns unsere fehlenden Entscheidungsstrukturen auf die Füße gefallen, unser Mangel an politischer Erfahrung und an politischer Bildung. Und die meisten Piraten sind sich einig, wir stehen vor einer Zerreißprobe.

In der Europäischen Union bahnt sich derweil die niedrigste Wahlbeteiligung aller Zeiten an, der Nationalismus ist auf dem Vormarsch, Menschen haben Angst vor Krieg, und Parteien aus der Mitte der Gesellschaft gehen auf Stimmenfang mit Vorurteilen und Rassismus.

Und was machen wir mit dieser äußerst suboptimalen Situation? Wir fahren die progressivste, proeuropäischste Kampagne, die Europa je gesehen hat, wir reißen Grenzen ein, statt sie aufzubauen. Wir fahren zu Hunderten nach Brüssel, um uns gemeinsame europäische Strukturen zu geben. Wir bringen über 10.000 Leute dazu, der Kommission Vorschläge zu einem neuen, europäischen Urheberrecht zu machen. Wir verwandeln Marktplätze in Graffitiwände, wir planen Drogen-Shops, wir verschaffen unserem Wahlwerbespot ein riesiges Publikum, und das komplett ohne Geld in die Hand zu nehmen. Alles, was wir dazu brauchen, ist ein bißchen Starthilfe durch einen Weltraumaufzug!

Und so gut sind wir, wenn wir schlecht sind, wenn viele meinen, es wäre schon vorbei mit uns Piraten.

Ganz im Ernst, wo immer ich hinkomme, reichen mir Piraten die Hand. Ich bin überwältigt von eurer Gastfreundschaft, von eurer Energie und von eurer Kreativität.

Und unglaublich oft, wenn ich mal genervt bin von den Piraten oder Zweifel habe, kommen die geilen Aktionen, kommt der Hype aus Sachsen. Ihr seid mir eine ständige Quelle der Inspiration. Und wenn es irgendwer verdient hat, in die Parlamente einzuziehen und unsere Ideen umzusetzen, dann ihr. Mit den Kommunalwahlen, den Europa- und den Landtagswahlen habt ihr einen echten Kraftakt vor euch. Und ich verspreche euch, ich werde dabei an eurer Seite kämpfen. Ich werde alles in diese Wahlkämpfe buttern, was irgendwie geht, denn ich weiß, das wofür wir uns einsetzen, ist wichtiger als jeder interne Streit.

Es geht um nicht weniger als die digitale Revolution.

Ich bin überzeugt davon, die wird der industriellen Revolution in Sachen gesellschaftliche Umwälzungen um nichts nachstehen. Damals gab es schon einmal eine politische Bewegung, die dafür gekämpft hat, dass alle Menschen an dem technischen Fortschritt teilhaben können. Die Digitalisierung soll unseren Traum von grenzenlosem Austausch von Wissen und Kultur erfüllen, von gesellschaftlicher Teilhabe, von einem Leben ohne Repression für alle, nicht nur für eine kleine Gruppe von Privilegierten. Das ist die Aufgabe, die vor uns liegt.

Das ist nicht deshalb unsere Aufgabe, weil wir die mit der großen technischen Expertise sind; die sozialen Folgen der industriellen Revolution wurden auch nicht von den Ingenieur*innen der Dampfmaschine ausgefochten. Das ist unsere Aufgabe, weil wir den Mut haben, uns eine Welt vorzustellen, in der wir es geschafft haben, in der das Internet ein echtes Werkzeug der Emanzipation und der gelebten Demokratie ist.

Wir sind die Science-Fiction-Partei! Unser Job ist es, einen 3D-Drucker in jedem Haushalt zu fordern und mal kritische Fragen über unser Konzept von Eigentum zu stellen! Unser Job ist es, verbindliche demokratische Entscheidungen im Internet zu üben. Unser Job ist es, mit dem Bedingungslosen Grundeinkommen die gesellschaftliche Teilhabe von der Lohnarbeit zu entkoppeln. Unser Job ist es, stupide, gesellschaftlich sinnlose Beschäftigungen zu überwinden und allen Menschen die Möglichkeit zu geben, sich selbst zu verwirklichen. Und unser Job ist es, einen Weltraumaufzug zu bauen, anstatt weiter Forschungsgelder in die Rüstungsindustrie zu stecken.

Und weil wir diesen Job ernst nehmen, müssen wir in die Parlamente. Und da kommen wir auch hin: In Europa werden wir deutschen Piraten nicht allein sein: Die Schweden stehen gerade kurz davor, als erste Piratenpartei wiedergewählt zu werden, weil sie einfach geile Arbeit gemacht haben.

Ohne Piraten im Europäischen Parlament hätten wir jetzt wahrscheinlich ACTA und die Netzneutralität wäre Geschichte. In Österreich schläft Martin Ehrenhauser seit Wochen auf öffentlichen Plätzen und hat eine Diskussion über die Zukunft der Demokratie angestoßen. In Tschechien haben die Piraten bei den Jugendwahlen gerade 20 Prozent eingefahren und sind stärkste Partei. Denn die Junge Generation hat keinen Bock auf ein Urheberrechtssystem, das Kreativität verhindert und die ganze Bevölkerung kriminalisiert.

Wir dürfen nicht vergessen, dass die Piraten sehr viel mehr sind, als die Piratenpartei Deutschland.

Und in Europa hat unsere Zeit gerade erst begonnen.

Ich kann es kaum erwarten, mit diesen Piraten aus ganz Europa im Europaparlament zu sitzen und das Urheberrecht auf den Kopf zu stellen. Wir haben dafür Verbündete in der Kommission, die haben auch gemerkt, dass unser Urheberrecht Kreativität verhindert. Wir werden all unsere Kräfte bündeln und gemeinsam den Grundstein legen für eine offene Gesellschaft und für freie Kultur.

Denn als Piraten vereint uns letztendlich nicht, wovor wir Angst haben, worüber wir uns empören, sondern wovon wir träumen.